Hessen wurde von 1946 bis 1987 kontinuierlich von den Sozialdemokraten regiert. In den 1950er und 1960er Jahren bildete Hessen mit den teils absoluten Mehrheiten für die SPD den Gegenpart zur christdemokratisch geführten Bundesregierung. Auch wenn die hessischen Christdemokraten bei den Landtagswahlen 1974, 1978 und 1982 stärkste Kraft wurden, konnte die CDU nicht die SPD als regierende Partei ablösen. Oberflächlich betrachtet ist dies überraschend, da Hessen insbesondere nördlich der Mainlinie eher ländlich strukturiert ist und man vermuten könnte, dass hier eine konservative Partei wie die CDU elektorale Vorteile haben sollte. Zwei Faktoren haben jedoch dazu geführt, dass das Gegenteil der Fall war. Zum einen waren – und sind nach wie vor – weite Teile Hessens mit Ausnahme der Landkreise Fulda und Limburg-Weilburg – protestantisch geprägt, was den Sozialdemokraten und – insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren – den Freien Demokraten Vorteile gerade in Nordhessen verschaffte. Zum zweiten implementierten die SPD-Landesregierungen ab den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre hinein ein massives Aufbauprogramm für den ländlichen Raum, etwa in dem Bau von Bürger- und Dorfgemeinschaftshäusern, die nahezu jeder auch kleinere Ortsteil in Hessen besitzt. Diese beiden Faktoren führten zu einer überdurchschnittlich starken Bindung der Wählerschaft im (protestantisch geprägten) ländlichen Raum an die SPD, so dass die Sozialdemokraten in weiten Teilen Nord- und Mittelhessens über Jahrzehnte hinweg die dominierende Partei waren.
Dieses Muster zeigt sich deutlich, wenn man die Ergebnisse in ausgewählten Städten und Gemeinden betrachtet. Die obige Abbildung zeigt, wie die Parteien durchschnittlich in Landgemeinden (bis 5000 Einwohner), Kleinstädten (bis 20000 Einwohner), Mittelstädten (bis 100 000 Einwohner) und Großstädten abgeschnitten haben. So verlor die SPD in einigen nordhessischen Kommunen, wo sie 1991 noch über 60% der Stimmen erreichen konnte, massiv und erzielte 2023 in Nieste, Söhrewald oder Edermünde nur noch wenig mehr als ein Vierteil der Stimmen. Symptomatisch ist auch der Rückgang der Unterstützung für die SPD bei den Landtagswahlen in Baunatal, dass durch einen hohen Anteil an Industriearbeitern aufgrund des dortigen VW-Werks gekennzeichnet und durch ein funktionierendes sozialdemokratisch-gewerkschaftliches Gesellschaftsmilieu charakteristiert war. Die SPD konnte hier 1991 noch 57,1% der Landesstimmen erzielen, während es 2023 nur noch 24,4% waren. Dies sind zwar – verglichen mit dem Landesergebnis, dass die SPD zu den beiden Wahlen jeweils erzielte (1991 40,8%, 2023 15,1%) – noch immer überdurchschnittliche Werte. Allerdings ist die SPD bei weitem nicht mehr die dominierende, eine für eine breite Mehrheit der lokalen Bevölkerung mehr attraktive Partei, obwohl strukturell die Bedingungen für einen Wahlerfolg – in Form der sozio-ökonomischen wie konfessionellen Struktur – noch immer vorhanden sein sollten.
Weitere Beispiele für den massiven Rückgang des SPD-Stimmenanteils in den ländlich-protestantisch geprägten Gegenden Nord- und Mittelhessens zeigen sich noch deutlicher, wenn man auf die Ebene einzelner Dörfer geht, die über Jahrzehnte als sichere Hochburgen der SPD galten. Ein solches Beispiel ist das zur Großgemeinde Dautphetal gehörende Allendorf, in dem die Sozialdemokraten Ergebnisse von deutlich mehr als zwei Dritteln der Stimmen erzielten – 1995 sogar 75%. Inzwischen ist die SPD dort aber abgestürzt. Dieser Rückgang auf 34,3% 2018 und 22% bei der jüngsten Landtagswahl ging mit einem deutlichen Zuwachs der AfD einher - von 18,3% 2018 auf 30,4% 2023. Analysen auf Aggregatebene sind nicht unproblematisch. Dennoch fällt auf, dass in einem traditionell sozialdemokratisch geprägten Dorf wie Allendorf die AfD überdurchschnittlich profitiert hat - zumal seit ihrer Wende zu einer explizit rechtspopulistisch bis rechtsrakdikalen Partei bei den Landtagswahlen 2018 und 2023. 2013 war sie als noch vor allem euroskeptisch-martkliberale Partei weniger erfolgreich. Parallel dazu schnitt die SPD seit 2018 unterdurchschnittlich in Allendorf ab, was eine Abwanderung früherer SPD-Wähler zur AfD nahelegt. Natürlich bedarf es genauerer Analysen, idealerweise mit Paneldaten, um diese Vermutung zu untermauern.
Insgesamt betrachtet ergibt sich eine für die SPD problematische Lage in den für die Sozialdemokraten früher als sicher geltenden ländlichen Gebieten Hessens, insbesondere im Norden und in der Mitte Hessens, die eine zentrale, wenn nicht gar dominante Rolle der SPD in Hessen, wie sie sie einstmals hatte, in weite Ferne rücken lässt.
Die Bundesrepublik ist zunehmend von Stadt-Land-Konflikten geprägt. Lukas Haffert hat in seinem Buch Stadt, Land Frust herausgerbeitet, wie Land- und Stadtbewohner zunehmend entlang von ökonomischen und kulturellen Fragen über Kreuz liegen und wie Grüne und AfD als Polparteien diesen Konflikt repräsentieren. Mit dieser Perspektive schauen wir auf das Flächenland Hessen, dass durch einen ökonomisch starken und urban geprägten Süden und einigen strukturschwachen ländlichen Regionen (u.a. in Nordhessen) gekennzeichnet ist. In der Abbildung haben wir alle Wähler der verschiedenen Parteien entlang der Urbanität ihrer Umgebung (wir nutzen die Bevölkerungsdichte als Proxy) aufgereiht. Zuerst kommen also Bewohner kleiner Landgemeinden wie Haina und zuletzt die Großstädter wie in Frankfurt. Sodann haben wir die mittlere Wählerin herausgegriffen und geschaut, wie urban bzw. ländlich sie wohnt.
Es zeigt sich, dass die Grünen, gefolgt von der FDP schon immer vorwiegend im urbanen Milieu ihr größtes Wählerpotential hatten. Ihr mittlerer Wähler teilt sich mit ca. 750 weiteren Personen einen Quadratkilometer (das entspricht in etwa der Bevölkerungsdichte von Mörfelden-Walldorf). Die Wählerschaft der SPD und CDU ist dagegen ländlicher geprägt, auch wenn es hier 2023 Verschiebungen in Richtung Urbanität gibt. Bemerkenswert ist die AfD, die gemäß unseres - imperfekten - Maßes die bisher ländlichste Wählerunterstützung hat.
Direktmandate gelten für einige als wichtiger Teil der Demokratie in den Bundesländern und im Bund. So würden sie u.a. die lokale Bindung und Verantwortlichkeit von einzelnen Abgeordneten befördern und den Einfluss von Parteien zurechtstutzen. Diese positive Meinung wird freilich vorwiegend von Parteien vertreten, die realistische Chancen auf Direktmandate haben bzw. davon sogar bevorteilt werden (wie z. B. CDU/CSU auf Bundesebene). Die Sinnhaftigkeit von Direktmandaten ist insbesondere in Zeiten eines zersplitterten Parteiensystems kaum zu rechtfertigen. Umfragen lassen erahnen, wie viele Wähler sich von Erst- und Zweitstimme verwirren lassen und erstere fälschlicherweise für die wichtigere halten, wenn es um die Sitzuverteilung geht. Weiterhin benötigt man für lokale Repräsentation keine Direktmandate. Parteien wie die Grünen, FDP oder Linken, die meist nur Listenmandate gewinnen, verteilen auch Verantwortlichkeiten für einzelne Orte und Regionen. Schließlich verfehlen schon lange Direktmandatare die demokratisch wichtige Hürde von 50%. 1991 vereinte der durchschnittliche Direktmandatar (der übrigens tatsächlich meist ein Mann ist) nur rund 47 Prozent der Wahlkreisstimmen auf sich, wobei auch einige Abgeordnete weit über 50 Prozent lagen. Dies zeigt die Grafik, die mit den blauen Punkten und Konfidenzintervallen den durchschnittlichen Wählerstimmenanteil der Direktmandatare angibt und mit den einzelnen (roten, schwarzen und grünen) Punkten die Werte für einzelne Abgeordnete (von SPD, CDU und Grünen) repräsentiert.
In die Analysen gehen verschiedene Datenquellen ein, die wir teils aufbereitet und mit weiteren Daten angereichert haben. Die Daten zu Wahlergebnissen und Gemeindestrukturdaten stammen von Hessischen Landesamt für Statistik. In Teilen kommt es zu kleineren Ungenauigkeiten, da die Daten im Zeitverlauf nicht einheitlich für verschiedene Gebietseinheiten (Wahlkreise, Gemeinden) vorliegen und wir die Sozialstrukturdaten von 2015 nutzen.
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Marc Debus Universität Mannheim marc.debus@uni-mannheim.de bluesky, twitter
Christian Stecker
TU Darmstadt
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