Die Mehrheitsillusion der blauen Wahlkreise

Autor:in

Christian Stecker und Julius Kölzer

Veröffentlichungsdatum

20. Februar 2025

Kein Wahlkreissieger gewinnt eine absolute Mehrheit

Auf den Karten der Wahlkreissieger der kommenden Bundestagswahl wird sich die ehemalige innerdeutsche Grenze unschwer erkennen lassen. Links davon, im Westen, wird die CDU/CSU die meisten Wahlkreise gewinnen, rechts davon, im Osten, gehen fast alle Wahlkreise an die AfD. Darüber hinaus prägen ein paar rote und grüne, meist urbane, Inseln das Bild.

Alle Wahlkreissieger tragen ein kleinen Makel: Sie gewinnen nicht mit einer absoluten, sondern nur mit einer relativen Mehrheit. Salvatore Barbaro und Nils D. Steiner haben dieses Phänomen und seine Auswirkungen bereits für die Bundestagswahlen 2021 umfangreich beleuchtet. Das Wahlkreis-Prognosemodell von YouGov erwartet für die Bundestagswahl 2025, dass in den meisten Wahlkreisen nur etwas über 30 Prozent der Stimmen für den Sieg reichen. Während in den Bundestagswahlen der alten Bonner Republik noch verhältnismäßig viele Wahlkreise mit absoluter Mehrheit gewonnen wurden, gelingt dies nun in einigen Fällen sogar mit weniger als einem Viertel der Stimmen.

Das ist weit entfernt von einer absoluten Mehrheit – und macht einen großen Unterschied für die demokratischen Legitimität. Wer mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält, schlägt jeden anderen Kandidaten im direkten Vergleich und ist somit die tatsächliche Mehrheitspräferenz der Wählerinnen und Wähler. Bei einer relativen Mehrheit kann es hingegen passieren, dass ein Kandidat gewinnt, der im direkten Vergleich gegen einen anderen unterlegen wäre.

Solche Szenarien werden besonders wahrscheinlich, wenn es viele Kandidaten gibt und die Abstände zwischen ihnen knapp sind. Wie knapp zahlreiche Wahlkreissiege sein werden, zeigt die folgende Abbildung (genauere Informationen bei mouse-over). Aufschlussreich ist hier der Wahlkreis 85 Berlin-Lichtenberg (der erste blaue Balken von links). Hier sieht das Vorhersagemodell die AfD bei 22% als Wahlkreissieger mit 3 Prozentpunkten Vorsprung vor der Linken-Vorsitzenden Ines Schwerdtner, die sich dort um das Direktmandat bewirbt. Offensichtlich bräuchte es nicht viel Unterstützung der Anhänger von SPD und Grünen für Schwerdtner, damit die Linke der AfD dieses Direktmandat streitig machen kann.

Die AfD ist stimmenstark, aber so polarisierend, dass sie meist keine absolute Mehrheit erringen kann

Tatsächlich werden viele AfD-Direktmandate aus dieser Variation auf divide et impera resultieren: Die Wählerstimmen von AfD-Gegnern werden über mehrere Parteien zersplittert, so dass die AfD oft die meisten Stimmen gewinnen kann. Auf der Wahlkarte der Wahlkreissieger wirkt die AfD dadurch häufig dominanter als sie eigentlich ist. Wie unsere Analyse zu den vergangenen Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen demonstriert, gelang es der AfD durch die starke Fragmentierung der Stimmen trotz geringen Erststimmenanteilen zahlreiche Direktmandate zu gewinnen. Selbst für die Landtagswahlen in Thüringen kann man in Frage stellen, dass die AfD wirklich als stärkste Kraft gelten darf, wenn damit die Unterstützung aller Wählerinnen und Wähler gemeint ist.

Unbestreitbar ist die AfD vor allem in Ostdeutschland enorm stark. In Teilen Sachsens kann sie mit mehr als 40 Prozent der Erst- und Zweitstimmen rechnen. Die AfD ist aber auch enorm polarisierend. Viele Wählerinnen würden eher für jede andere Partei stimmen als für die AfD. Wer nicht für die AfD ist, ist also oft entschieden gegen sie. Dies zeigt sich auch anhand einer (nicht repräsentativen) Umfrage im Vorfeld der Bundestagswahl. Hier haben die Teilnehmer angegeben, inwiefern sie bereit wären, den verschiedenen Parteien ihre Stimme zu geben. Die Abbildung zeigt die Ergebnisse aufgeschlüsselt nach der Wahlabsicht zur Bundestagswahl.

Wenig überraschend würden die meisten Wähler einer Partei am wahrscheinlichsten auch für diese stimmen. Spannend wird es aber, wenn man die Reihenfolgen der Präferenzen dahinter betrachtet. Die AfD ist bei Wählern der Linken, Grünen und SPD extrem unbeliebt. Zwar hat auch die CDU in diesem Lager keinen besonders hohen Sympathiewert, doch im direkten Vergleich würden diese Wähler die Union immer noch klar der AfD vorziehen.

Umgekehrt ist die Begeisterung für Grüne und SPD unter Anhängern von CDU und FDP begrenzt – doch im direkten Vergleich mit der AfD schneiden die linken Parteien auch hier besser ab.

Das bedeutet: In einer Stichwahl gegen einen AfD-Kandidaten könnten sowohl CDU- und FDP-Kandidaten als auch Vertreter von SPD und Grünen auf die Stimmen aus dem jeweils anderen politischen Lager zählen. Trotz aller Differenzen gibt es also eine klare gemeinsame Haltung gegen die AfD.

Das Wahlsystem bei der Bundestagswahl fragt nicht nach Präferenzreihenfolgen – jeder Wähler kann für Wahlkreis und Parteiliste nur ein Kreuz setzen. Doch was wäre, wenn stattdessen die gesamte Rangfolge der bevorzugten Kandidaten im Wahlkreis berücksichtigt würde?

Ein mögliches Modell dafür ist die integrierte Stichwahl, die in Ländern wie Irland und Australien genutzt wird. Hier geben Wähler nicht nur eine einzige Stimme ab, sondern ordnen die Kandidaten nach ihrer persönlichen Präferenz. Auf dem Wahlzettel könnte also beispielsweise stehen: 1. CDU-Kandidat, 2. FDP-Kandidat, 3. SPD-Kandidat usw.

Die Auszählung erfolgt dann in mehreren Runden: Zunächst wird geprüft, ob ein Kandidat direkt die 50 %-Marke überschreitet. Falls nicht, scheidet in jeder Runde der Kandidat mit den wenigsten Stimmen aus – seine Stimmen werden auf die jeweils nächstgereihte Präferenz umverteilt. Dieser Prozess wiederholt sich so lange, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht.

Mit einem solchen System würden Wahlkreisrennen oft anders ausgehen – besonders dort, wo ein Kandidat zwar die meisten Stimmen erhält, aber von einer Mehrheit der Wähler eigentlich abgelehnt wird. Die Tabelle illustriert dies am Beispiel des Wahlkreises Berlin-Lichtenberg. In der ersten Auszählungsrunde führt die AfD knapp mit 23,2 Prozent der Erstpräferenzen. Bereits in der dritten Auszählungsrunde, wenn die Grünen-Kandidatin als Stimmenschwächste gestrichen wird, ist dieser Vorsprung passé. Die Grünen-Wähler verteilen sich nämlich vor allem auf SPD und Linke. In Runde 5 geht die Linke in Führung, weil sie nun zahlreiche Zweitpräferenzen von SPD-Wählern erhält. In Runde 6 ist die AfD die schwächste Partei. Die Zweitpräferenzen ihrer Wähler gehen nun mehrheitlich auf die CDU über, die damit knapp den Wahlkreis gewinnen kann.

Integrierte Stichwahl am Beispiel des Wahlkreises 85 Berlin-Lichtenberg

Partei 1 2 3 4 5 6 7
CDU 18.9% 18.9% 20.4% 20.5% 25% 29.9% 54.5%
Linke 20% 20% 20% 24.4% 29.3% 43.7% 45.5%
AfD 23.2% 23.2% 23.5% 23.5% 26.2% 26.3%
SPD 12.6% 12.6% 12.8% 18.8% 19.4%
BSW 12.6% 12.6% 12.7% 12.7%
Grüne 10.5% 10.5% 10.5%
FDP 2.1% 2.1%
Freie Wähler 0%

Simuliert man ein solches Wahlsystem mit integrierter Stichwahl auf Basis der Umfrage und den YouGov-Projektionen für die 299 Wahlkreise, ändert sich das Bild: Viele blaue Wahlkreise werden nun schwarz (weil viele Wähler aus dem linken Lager dann doch die CDU gegenüber der AfD bevorzugen). Dies ist auch kein undemokratischer Taschenspielertrick. Es werden nun mehr Präferenzen der Wähler berücksichtigt. Die integrierte Stichwahl fragt nicht nur nach der Lieblingspartei oder dem Lieblingskandidaten, sondern eben auch nach den Meinungen über die weiteren Parteien und Kandidaten.

Freilich darf man die Simulationsergebnisse nicht überbewerten. Für eine sicherere Schätzung bräuchte man wahlkreisgenaue Informationen über die Präferenzreihenfolge der Wählerschaft. Es kann aber abgeleitet werden, dass viele AfD-Wahlkreissiege auf der Zersplitterung des Spektrums jenseits der AfD bei den Erststimmen beruhen.

Die AfD ist unter den Wählern anderer Parteien äußerst unbeliebt – und genau das wird ihr in direkten Duellen mit anderen Parteien zum Verhängnis. Das zeigt die folgende Abbildung für die 48 Wahlkreise, in denen das YouGov-Modell die AfD als stärkste Kraft (nach relativer Mehrheit) prognostiziert.

Zur Erinnerung: Bei der Auszählung in der integrierten Stichwahl scheidet in jeder Runde die schwächste Partei aus. Die Stimmen ihrer Wähler werden gemäß deren Zweitpräferenzen auf die verbleibenden Parteien verteilt. Parteien, die von anderen Wählerschichten gemocht werden, profitieren besonders von diesem Mechanismus.

Die AfD hingegen gehört meist nicht dazu. Zwar startet sie oft mit starken Erststimmenwerten, doch sobald andere Parteien ausscheiden, bleiben ihre Stimmenanteile weitgehend konstant – sie bekommt kaum neue Stimmen hinzu. Stattdessen wachsen zunächst die Stimmenanteile des linken Lagers: Wenn Grüne, SPD oder Linke ausscheiden, gehen ihre Wählerstimmen meist an andere linke Parteien.

Besonders entscheidend wird es, wenn es im letzten Wahlgang (häufig Runde 7) zu einem direkten Duell zwischen AfD und CDU kommt. Dann setzen viele linke Wähler, die ihre bevorzugten Parteien bereits verloren haben, lieber auf die CDU – nur um die AfD zu verhindern.