Die Frage, wer mit wem und wie regieren sollte, wird nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen voraussichtlich nie dagewesenes Kopfzerbrechen bereiten. Im Osten sind die Ampelparteien besonders schwach, die AfD besonders stark (und besonders radikal) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ein ganz besonders erfolgreicher Newcomer. Mit den Wahlen am 1. September werden sich die erneuten Verschiebungen im ohnehin sprunghaften Parteiensystem erstmals in Landesparlamenten manifestieren. Die Fraktionen, polarisiert und fragmentiert wie nie, sind vor die komplexe Aufgabe gestellt, in den Landtagen von Dresden und Erfurt Mehrheiten zu finden - sei es in Form klassischer Regierungskoalitionen oder mit flexiblen Mehrheiten etwa unter einer Minderheitsregierung.
Der Koal-O-Mat kann die inhaltlichen Rahmenbedingungen dieser komplexen Aufgabe etwas aufhellen. Er nutzt die Positionen der Parteien im Wahl-O-Mat der Landeszentralen für Politische Bildung für Sachsen und Thüringen für ein Gedankenexperiment: Welche Regierungskoalitionen oder wechselnde Mehrheiten sind denkbar, wenn es in der Politik nur um die 38 Thesen des Wahl-O-Mat ginge? Welche Parteien profitieren von starren Koalitionen, welche von Minderheitsregierungen und wie wirkt die Brandmauer gegen die AfD auf die Handlungsspielräume in den Parlamenten?
Freilich ist die Realität komplexer. Die politischen Themen werden in den Thesen des Wahl-O-Mats (absichtlich) stark vereinfacht und die inhaltliche Nähe wird mit den drei Antwortmöglichkeiten der Parteien (“stimme zu”, “stimme nicht zu”, “neutral”) nur grob erfasst. Zudem werden Faktoren ausgeblendet, die für Regierungs- und Mehrheitsbildung wichtig sind (z. B. Unvereinbarkeitsbeschlüsse, strategische Überlegungen mit Blick auf die Bundesebene, persönliche Animositäten des Spitzenpersonals, etc.). Und freilich stellen sich in der Realität drängende normative Fragen (insbesondere zur Demokratiegefährdung durch die AfD), die hier nicht berücksichtigt werden. Das Gedankenexperiment schärft aber den Blick für die Möglichkeiten der Mehrheitsbildung und für die Vor- und Nachteile von Mehrheitskoalitionen, flexiblen Minderheitsregierungen und für die ambivalente Rolle der Brandmauer zur AfD. Diese Einsichten können helfen, in der vertrackteren Realität mit klarem Kopf zu agieren.
Während im Wahl-O-Mat die Bürgerinnen und Bürger herausfinden können, welche Partei ihren eigenen Positionen am nächsten kommt, beleuchtet der Koal-O-Mat wie gut die einzelnen Parteien zueinander passen. Die Abbildung zeigt für ausgewählte Wahl-O-Mat-Thesen die Positionen einzelner Parteien (die Parteien sind hier grob entlang einer gedachten links-rechts-Achse angeordnet). Es zeigen sich klare Gegensätze zwischen den Parteien des linken und rechten Spektrums. Interessant ist, dass das BSW mal nach links und mal nach rechts tendiert. Bei gesellschaftspolitischen Themen wie Gendersprache oder Fluchtmigration nimmt es eher rechte Positionen ein und hat dort Gemeinsamkeiten mit der Union. Bei sozialpolitischen Themen gibt es Schnittmengen mit dem linken Lager. Diese besondere Rolle als Brücke im alten links-rechts-Schema haben bereits zahlreiche politikwissenschaftliche Untersuchungen herausgearbeitet (z. B. Wagner et al. 2023, Thomeczek et al. 2024).
Alle Übereinstimmungen zwischen Parteienpaaren in den jeweils 38 Thesen werden in der folgenden Abbildung zusammengezählt (die Größe der Blase gibt einen zusätzlichen visuellen Eindruck). Offenkundig gibt es vielfältige inhaltliche Gegensätze und Überschneidungen im Parteiensystem Sachsens und Thüringens. AfD und Grüne sind sich in sehr wenigen Themen grün (z. B. bei der Beschäftigung mit der SED-Diktatur oder einem Lobbyregister). Auch zwischen CDU und Grünen bestehen wenig Gemeinsamkeiten. Die relativ geringen Schnittmengen zwischen CDU und Linken legen nahe, dass der Unvereinbarkeitsbeschluss der Union nicht das einzige Hindernis einer Kooperation beider Parteien darstellt. Innerhalb des linken Lagers gibt es dagegen viele Überschneidungen, ebenso ist es bei CDU, Freien Wählern und AfD (hier sei daran erinnert, dass der Wahl-O-Mat nicht dazu gebastelt wurde, um z. B. konservative von rechtsradikalen Positionen zu unterscheiden).
Auffällig ist, dass die Einigkeit zwischen verschiedenen Parteien von einem gedachten links-rechts-Konflikt strukturiert ist (die Parteien sind wieder entlang einer gedachten links-rechts-Achse angeordnet). Wandert man in der ersten Zeile von der rechtesten Partei, der AfD, nach rechts, wächst die Einigkeit mit der jeweiligen Partei. Bei den Linken verhält es sich umgekehrt. Erneut scheint hier die Sonderrolle des BSW auf. Es hat sowohl mit linken als auch mit rechten Parteien eine bemerkenswerte Anzahl gleicher Thesenantworten.
Das Parteiensystem hat sich vor allem im Osten der Republik weiter fragmentiert und die Stimmenanteile der Parteien haben sich stark verschoben. Das Zeitalter klassischer homogener Zweier-Mehrheitskoalitionen (die Älteren erinnern sich an rot-grüne und schwarz-gelbe Koalitionen) ist hier längst vorbei. Oftmals müssen sich außergewöhnliche und ideologisch sehr uneinige Dreiverbindungen zusammenfinden. Die aktuelle Kenia-Koalition in Sachsen aus CDU, SPD und Grünen steht dafür und die dabei auftretenden Konflikte Pate. Zugleich sorgt die Stärke der AfD dafür, dass rechnerisch Zweier-Koalitionen mit ihr möglich wären, die wiederum politisch nach aktuellem Stand ausgeschlossen sind. Die folgende Abbildung gibt einen thesengenauen Blick auf Einigkeit und Konflikt innerhalb verschiedener Parteienbündnisse (von denen nicht alle rechnerisch mögliche Koalitionen sind). Für jede Konstellation ist dargestellt, ob in einer These Einigkeit oder Konflikt besteht. Konkret wird als einig gewertet, wenn alle Parteien einer Konstellation einheitlich auf eine These geantwortet haben. Uneinig ist eine Koalition, wenn mindestens ein Partner “stimme zu” oder “stimme nicht zu” und ein weiterer Partner “neutral” angegeben hat. Als sehr uneinig gelten Koalitionen in einer These, die zwei Partner mit “stimme zu” und “stimme nicht zu” beantwortet haben und sich damit deutlich widersprechen.
Besonders interessant ist die letzte Spalte “flexible Mehrheiten”. Hier wird geschaut, ob sich im Landtag Parteien zu einer These einig sind, die eine absolute Sitzmehrheit zusammenbringen würden (nach aktuellen Wahlumfragen und der Umrechnung in voraussichtliche Sitzanteile, siehe Anhang). Es fällt sofort ins Auge, dass in zahlreichen Thesen flexible Mehrheiten möglich sind. Bei flexiblen Mehrheiten können je nach Thema unterschiedliche Parteien zu einer Abstimmungsmehrheit zusammenfinden. Diese Art der Mehrheitsfindung bietet einen deutlich größeren Handlungsspielraum für Politik als die klassischen Koalitionsformate, bei denen nur ein fixer Teil der Parteien (typischerweise die Koalitionsparteien) versuchen, Schnittmengen in Politik umzusetzen - bzw. bei Uneinigkeit - an der bestehenden Regelung festhalten.
Diese Schnittmengen unterschiedlicher Parteienkonstellationen in allen 38 Thesen sind in der folgenden Abbildung zusammengezählt, rechnerisch nicht mehrheitsfähige Verbindungen sind eingeklammert. Für beide Bundesländer zeigt sich, dass die ausgehenden, nach aktuellen Umfragen nicht mehr mehrheitsfähigen Konstellationen, einen geringen Vorrat an Gemeinsamkeiten aufweisen. Dies ist in Sachsen die Kenia-Koalition und in Thüringen das diffuse Konstrukt einer von der CDU teilweise gestützten Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen. Die rechnerisch möglichen Konstellationen erscheinen sehr ungewöhnlich, sind im Falle einer AfD-Beteiligung auch politisch ausgeschlossen und weisen insgesamt eher geringe Gemeinsamkeiten auf.
In beiden Bundesländern erweisen sich flexible Mehrheiten dagegen als besonders effektiv, wenn es nur darum ginge, je nach Thema handlungsfähige Parlamentsmehrheiten zu schmieden. Eine Brandmauer, also der Ausschluss der AfD von jeglicher Mehrheitsbildung, würde diese Spielräume erheblich reduzieren, von 34 auf nur noch 12 bzw. 13 Themen. Zugleich würden auch in einem brandmauerbewährten Parlament flexible Mehrheiten immer noch den größten Handlungsspielraum erlauben.
Wer in der Politik verschiedene mehrheitsfähige Optionen hat, ist klar im Vorteil. Er kann sondieren, mit welchen Partnern er seine Interessen (und die seiner Wählerinnen und Wähler) am besten umsetzen kann, muss sich nicht jedem Kompromiss fügen bzw. als Minderheit vollständig außen vor bleiben. In idealtypische Minderheitsregierungen wird diese “Spinne im Netz” von einer mittleren Partei (Medianpartei) gespielt, die mit verschiedenen Oppositionsparteien kooperieren kann, während diese Oppositionspartien wiederum nicht mehrheitsfähig gegen die Minderheitsregierung sind.
In unserem Gedankenexperiment kann dieser Vorteil gemessen werden, indem wir zählen, in wie vielen flexiblen Mehrheiten eine Partei mitwirken könnte. Diese Zählung wird in der Abbildung für zwei verschiedene Szenarien vorgenommen. In einem Szenario gibt es keine Brandmauer, d.h. es können auch Mehrheiten mit der AfD gebildet werden. Im anderen Szenario gilt die Brandmauer, bei der die AfD vollständig von der Mehrheitsbildung ausgeschlossen ist. Im Spektrum der demokratischen Parteien erweisen sich CDU und BSW, in Thüringen vor allem die CDU als Spinne im Netz. In Thüringen könnte die CDU 27 flexible Mehrheiten bilden. Als Spinne im Netz wäre die CDU daher - zumindest in der politikwissenschaftlichen Theorie - prädestiniert dazu, eine mögliche Minderheitsregierung anzuführen. SPD, Linke und Grüne finden sich dagegen in einer politischen Randposition.
Die Auszahlungen flexibler Mehrheitsbildung verändern sich fundamental, wenn wir in unserem Gedankenexperiment eine Brandmauer gegen die AfD einziehen. Insgesamt vermindert sich der Handlungsspielraum des Parlaments, da nun mehr als 1/3 der Sitze quasi hinter der Brandmauer unnutzbar für die Mehrheitsfindung verschwinden (siehe oben). Der inhaltliche Preis der Brandmauer ist besonders hoch für BSW und CDU. Die Thüringer CDU könnte beispielsweise unter einer Brandmauer nur noch in 13 und nicht mehr in 27 Themen einen Mehrheit bilden - ihr politischer Spielraum würde sich also halbieren. Sie verlöre z.B. ihre Mehrheitsfähigkeit bei konservativen Themen wie der Vermittlung eines traditionellen Familienbildes in der Schule, der Ablehnung von Gendersprache oder paritätischer Wahllisten. Grüne und SPD kostet die Brandmauer inhaltlich deutlich weniger. Ihre Möglichkeiten zur Gestaltung vermindern sich nur um wenige Themen.
Freilich kann sich eine Bewertung der Brandmauer nicht im Auszählen von Mehrheiten erschöpfen. Verschiedene Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler argumentieren, dass das gemeinsame Abstimmen mit der im Osten weitgehend rechtsextremen AfD diese demokratiegefährdende Partei weiter normalisiert. Zugleich ist es prozedural problematisch, wenn moderate (in diesem Fall konservative) Positionen (und nichts anderes bilden die Thesen des Wahl-O-Mat ab) ihre Mehrheitsfähigkeit durch eine kategorische Verbannung von Parlamentsmandaten verlieren und (in diesem Fall linke) Minderheitenpositionen über ihrem eigentlich demokratisch festgelegten Gewicht boxen können. Die Glaubwürdigkeit der CDU dürfte dann vor allem in den Augen konservativer Wählerinnen und Wähler leiden, die sich nicht auf die höhere Mathematik des Brandmauerparlamentarismus einlassen möchten. Die Brandmauer ist so gesehen eine Wiederkehr der roten Socken-Kampagne der CDU gegen das linke Lager am anderen Ende des politischen Spektrums.
Der Koal-O-Mat möchte ins Bewusstsein rücken, dass die bisherige Regierungspraxis auf Landes- und Bundesebene, die zuletzt insbesondere als notorisch zerstrittene Mehrheitskoalition daherkommt, nicht alterantivlos ist. In einem zunehmend zersplitterten und polarisierten Parteiensystem ist sie möglicherweise sogar eine schlechte Wahl. In Mehrheitskoalitionen formed in Germany erlegen sich die Partner einen absoluten Kompromisszwang auf und lassen die Parteien der Opposition bei der Suche nach Mehrheiten völlig außer Acht. Der Einigungszwang kann die Koalition handlungsunfähig machen, oder die Parteien zu Kompromissen zwingen, die sie von ihren jeweiligen Wähler entfremden. Dies gilt insbesondere, wenn sich mehrere unterschiedliche Parteien zusammenschließen. Die Berliner Ampel- und die Dresdner Keniakoalitionäre wissen mehrere Lieder davon zu singen.
Das Koalitionskorsett kann gelockert werden, indem die Parteien über flexible Mehrheiten nachdenken. Dies würde bedeuten, dass sich in unterschiedlichen Themen auch unterschiedliche Parteien zu einer Mehrheit zusammenfinden. Diese Flexibilität kann durch eine Minderheitsregierung erreicht werden. Sie kann aber auch durch innovativere Koalitionsabkommen praktiziert werden. In “agree-to-disagree”-Klauseln können die Koalitionspartner z. B. bestimmte Fragen vom Einigungszwang ausnehmen und sich gegenseitig die Suche nach alternativen Mehrheiten zubilligen. Regierungsparteien werden dann auch einmal Abstimmungen verlieren - sie können aber so ihren Wählern demonstrieren, zu welchen Positionen sie unverrückbar stehen möchten.
In Neuseeland und Skandinavien funktioniert diese offenere politische Zusammenarbeit seit langer Zeit erfolgreich und eine umfangreiche politikwissenschaftliche Literatur attestiert ihr gute bis sehr gute Leistungen (z. B. beim Einhalten von Wahlversprechen oder Flexibilität). Diese Einsichten sollten auch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier in Dresden und Erfurt rezipieren, wenn sie sich über die komplizierte Mehrheitsbildung nach den Landtagswahlen den Kopf zerbrechen müssen.
Die inhaltlichen Positionen wurden aus dem Wahl-O-Mat der Bundeszentrale und den Landeszentralen für Politische Bildung in Sachsen und Thüringen gewonnen. Dankenswerterweise werden die Positionsdaten inzwischen gut aufbereitet maschinenlesbar zur Verfügung gestellt.
Für die Bestimmung von rechnerisch möglichen Koalitionen und den damit verbundenen möglichen wechselnden Mehrheiten wurden aktuelle Umfragen genutzt, wie sie auf www.wahlrecht.de veröffentlicht werden.
Landtagswahl | Partei | Stimmenprognose | Sitzprognose |
---|---|---|---|
sn2024 | CDU | 29 | 37 |
sn2024 | SPD | 7 | 9 |
sn2024 | Linke | 5 | 6 |
sn2024 | Grüne | 7 | 9 |
sn2024 | AfD | 30 | 39 |
sn2024 | BSW | 15 | 19 |
Landtagswahl | Partei | Stimmenprognose | Sitzprognose |
---|---|---|---|
th2024 | CDU | 23 | 22 |
th2024 | SPD | 7 | 7 |
th2024 | Grüne | 5 | 5 |
th2024 | Linke | 11 | 10 |
th2024 | AfD | 29 | 27 |
th2024 | BSW | 20 | 19 |